KOLUMNE

Ein Hoch auf den Herbst

Startseite
Kolumne
Dass der Herbst nicht mit der Deutschen Bahn reist, lässt sich unschwer daran erkennen, dass er dieses Jahr überpünktlich ist.
Während ich auf einen langsam auslaufenden Spätsommer mit lauen Abenden gepocht habe, sind bereits jetzt Zwiebel-Look, Wollsocken und Heiße Zitrone angesagt. Erste Kürbisse ziehen Grimassen, Kastanienmännchen twerken über Fensterbretter, die Blätter verfärben sich und fallen im Oktoberwind zu Boden, wo sie nach zwei Wochen permanentem Regen zu Hummus werden, als hätte irgendjemand Falafel bestellt.

Eins ist sicher: Der Herbst wird kriminell unterschätzt, wie Delikte, die strafrechtlich nicht streng genug verfolgt werden. Während die halbe Welt dem gänzlich überbewerteten Sommer entgegenfiebert, von einem weißen Winter träumt oder von Frühlingsgefühlen schwadroniert, die nach Spargelpisse riechen und nichts als Heuschnupfen verursachen, ist der Herbst der heimliche Star der vier Jahreszeiten. Für den Weinbau ist er der Klimax. Die anstrengendste, aber auch wichtigste Zeit.

Eins ist sicher: Der Herbst wird kriminell unterschätzt

Viele Weingüter sind mit der Lese bereits durch. Einige so früh wie nie. In den Kellern gluckert es momentan munter. Die Fermentation befindet sich in vollem Gange. Wenn sich der Druck der Lesezeit langsam in Luft auflöst, wie der Öchslegrad im gärenden Most, ist der wichtigste Job vorerst getan. Der Wein braucht jetzt erstmal Me-Time.

Ohne Wenn und Aber: Der Herbst ist die heißeste Phase überhaupt. Alle Betriebe arbeiten das ganze Jahr über auf diesen einen Zeitpunkt hin. Die Lese ist das Champions-League-Finale der Wein-Saison. Physiologisch vollreife Trauben am Stock. Mit dem richtigen Mostgewicht und schönen Säurewerten. Penibel lesen wie das Kleingedruckte in Eheverträgen. Selektieren und entrappen. Einmaischen. Darauf warten, bis die Gärung einsetzt. pH-Werte checken, Most verkosten, überschwallen, umstoßen, durchatmen, bis es an die Pressung geht und die Säfte in den Keller wandern.
Ja, der Herbst ist fordernd. Kostet unendlich viel Kraft, doch gibt diese auch zurück. Die Energie, die in den Herbst fließt, spiegelt er wider. Er ist energetischer Dreh- und Angelpunkt. Im Kosmos des Weinbaus ist der Herbst die Sonne, um die sich alles dreht. Auch der Rebschnitt von Januar bis März ist essenziell. Keine Frage. Die Arbeiten im Frühjahr sind nicht minder wichtig. Das Biegen, Binden und Heften der Reben. Die Schädlingsbekämpfung. Austrieb, Blüte und Traubenbildung. Alles schön und gut. Gar unabdingbar. So will es der Zyklus. Doch im Herbst entscheidet sich, wie Betriebe den Winter, den Frühling, den Sommer verbringen. Oder besser gesagt: überleben. Denn jede Laune der Natur wirkt sich auf die Stimmung aus.

Mir kann es nicht in die dritte Zeile im vierten Abschnitt regnen. Hagelschaden in der Headline und Spätfrost im letzten Satz: keine Chance. Weder Rehe, Füchse oder Vögel bedienen sich ungefragt an meinem Wortschatz und auch die Kirschessigfliege und der Mehltau interessieren sich keineswegs für mein Geschwätz. Wie gut, dass ich meine Texte nicht an Pilzkrankheiten adressiere, sondern Menschen. In diesem Sinne: Auf einen schönen Herbst. Und danke fürs Lesen. Cheers.
Milton Sidney Curtis, der Wein-Influencer und freie Autor bewegt mit Wortwitz, Biss und Charme schreibend die Weinwelt. Ob feine Tropfen kleiner Weingüter oder Markenweine von Global Playern: Sidney probiert, rezensiert und polarisiert. Ein selbsternannter „Silly Ass“ für alle, die Wein lieben!

Folge Sidney auf Instagram
Seite bewerten

Willkommen bei wine.vino.wein – dem Magazin für Weinliebhaber

In unserem Magazin findest du redaktionelle Beiträge und Informationen rund um das Thema Wein. Da wir uns für einen verantwortungsbewussten Umgang mit alkoholischen Getränken einsetzen, richtet sich der Inhalt ausschließlich an Erwachsene und du musst mindestens 18 Jahre alt sein, um wine.vino.wein zu besuchen.
Das Overlay schließen / Close the overlay
Bitte warten...