Viele Weingüter sind mit der Lese bereits durch. Einige so früh wie nie. In den Kellern gluckert es momentan munter. Die Fermentation befindet sich in vollem Gange. Wenn sich der Druck der Lesezeit langsam in Luft auflöst, wie der Öchslegrad im gärenden Most, ist der wichtigste Job vorerst getan. Der Wein braucht jetzt erstmal Me-Time.
Ohne Wenn und Aber: Der Herbst ist die heißeste Phase überhaupt. Alle Betriebe arbeiten das ganze Jahr über auf diesen einen Zeitpunkt hin. Die Lese ist das Champions-League-Finale der Wein-Saison. Physiologisch vollreife Trauben am Stock. Mit dem richtigen Mostgewicht und schönen Säurewerten. Penibel lesen wie das Kleingedruckte in Eheverträgen. Selektieren und entrappen. Einmaischen. Darauf warten, bis die Gärung einsetzt. pH-Werte checken, Most verkosten, überschwallen, umstoßen, durchatmen, bis es an die Pressung geht und die Säfte in den Keller wandern.
Der Wein braucht jetzt erstmal Me-Time.
Ein ganzes Jahr Arbeit, die in vier Wochen mündet. Eigentlich irre. Als Winzerin und Winzer muss man wirklich verrückt sein. Man legt sein Schicksal in die Hände der Natur. Einer höheren Gewalt. Mutter Erde. Der Gezeiten. Des Klimawandels. Konzentriert die Arbeit eines Jahres auf einen vierwöchigen Moment.
Ja, der Herbst ist fordernd. Kostet unendlich viel Kraft, doch gibt diese auch zurück. Die Energie, die in den Herbst fließt, spiegelt er wider. Er ist energetischer Dreh- und Angelpunkt. Im Kosmos des Weinbaus ist der Herbst die Sonne, um die sich alles dreht. Auch der Rebschnitt von Januar bis März ist essenziell. Keine Frage. Die Arbeiten im Frühjahr sind nicht minder wichtig. Das Biegen, Binden und Heften der Reben. Die Schädlingsbekämpfung. Austrieb, Blüte und Traubenbildung. Alles schön und gut. Gar unabdingbar. So will es der Zyklus. Doch im Herbst entscheidet sich, wie Betriebe den Winter, den Frühling, den Sommer verbringen. Oder besser gesagt: überleben. Denn jede Laune der Natur wirkt sich auf die Stimmung aus.
Mir kann es nicht in die dritte Zeile im vierten Abschnitt regnen. Hagelschaden in der Headline und Spätfrost im letzten Satz: keine Chance. Weder Rehe, Füchse oder Vögel bedienen sich ungefragt an meinem Wortschatz und auch die Kirschessigfliege und der Mehltau interessieren sich keineswegs für mein Geschwätz. Wie gut, dass ich meine Texte nicht an Pilzkrankheiten adressiere, sondern Menschen. In diesem Sinne: Auf einen schönen Herbst. Und danke fürs Lesen. Cheers.
Milton Sidney Curtis, der Wein-Influencer und freie Autor bewegt mit Wortwitz, Biss und Charme schreibend die Weinwelt. Ob feine Tropfen kleiner Weingüter oder Markenweine von Global Playern: Sidney probiert, rezensiert und polarisiert. Ein selbsternannter „Silly Ass“ für alle, die Wein lieben!
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