KOLUMNE
Umpropfen im Kopf
Der Mensch ist eine nachwachsende Ressource. 2025 werden weltweit voraussichtlich 132,7 Millionen Kinder geboren, was ungefähr 4 druckfrischen Erdlingen pro Sekunde entspricht. 2041 – in 16 Jahren – sind das 132,7 Millionen potenzielle Weinnasen.
Trotz dieser Überproduktion gelingt es der Branche nur schleppend wie Möbelpacker, neue Fans für unsere Kultur zu gewinnen. Betriebe sterben, Flächen liegen brach, der Pro-Kopf-Verbrauch sinkt. Ich will nicht dystopisch klingen, doch es ist fünf… vier… drei… zwei… eins… vor zwölf. Kein Witz: Die Branche steht vor einer ziemlichen Scheißzeit. Die WHO warnt mittlerweile wöchentlich vor jedem Tropfen Alkohol, Gen Z hat sowieso keinen Bock auf Boomer-Cringe und Rotwein, der im Abgang nach Medizinball schmeckt und dann wäre da noch das Image der Szene, das nach außen ungefähr so einladend wirkt, wie ein Gartentörchen mit dreiköpfigem Dobermann dahinter.
Da stellt sich die Frage: Wie müssen wir als Szene zukünftig agieren, um wieder eine interessante Branche zu werden? Wie gewinnen wir Newbies aus allen Ecken des Landes und wie zum Henker begeistern wir die nächste Generation?
Damit wären wir auch schon bei der Eine-Millionen-Euro-Frage angekommen: Wie erreicht man junge Menschen mit einer alten Kultur? Eine Generation, der während der Corona-Pandemie ein großes Stück Freiheit genommen wurde. Der nach Covid-Ende nie wirklich nähergebracht wurde, was Ausgehkultur heißt. Einer Generation, der Friedrich Merz jetzt mit dem Wehrdienst droht. Die bis zum 72. Lebensjahr arbeiten soll. Ja, wie zum Henker zeigen wir dieser geächteten Generation, dass Wein ein verdammt geiles Gesöff ist?
Selbstverständlich nicht mit Reinzucht-Riesling, elitärem Terroir-Geschwätz, Herkunftsgelaber und Qualitätspyramiden, die sich wie Elfenbeintürme Richtung Himmel strecken. Die Wahl der neuen Weinprinzessin mag für die Menschen in einem inzestuösen Kuhkaff an der Mittel-Mosel so spannend sein wie die Gender-Reveal-Party von Cristiano Ronaldo, Kids in der Großstadt juckt das einen feuchten Furz. Wen interessiert 2025 noch, welcher Wein zu Currywurst passt? Verkostungsnotizen in steinzeitlichem Streber-Deutsch? Oberlehrer-Tastings mit Erdkunde-Vibe? Damit werden wir das Ruder nicht herumreißen. Auch nicht in hundert Jahren.
Eine zentrale Frage, die ich mir momentan stelle: Besitzt Wein überhaupt die Kraft, den Quantensprung zu schaffen oder brauchen wir Kunst, Sport, Gaming, Musik und Mode als Multiplikatoren, da unserem geliebten Kulturgut die popkulturelle Kraft fehlt, um in Sphären vorzudringen, die dieser Tage unerreichbar scheinen? Sollten wir hier nicht mehr connecten? Proaktiv networken? Die Fühler ausstrecken? Eins ist sicher: Wir müssen neue Wege gehen.
Wie designen wir Etiketten? Wie formulieren wir Texte? Wie gestalten wir Verkostungen und Messen? Wie machen wir Wein wirklich erlebbar? Und ganz wichtig: Wie schaffen wir Nonchalance und Barrierefreiheit?
Ein zentrales Problem hier: Wir beschäftigen uns mit allem, wirklich allem, außer den Bedürfnissen dieser Generation. Wir hören nicht zu. Fragen kaum nach. Stattdessen kämpfen wir um Deutungshoheit. Und schwätzen alles und jeden so tief in Grund und Boden, dass man schon fast von Terroir sprechen könnte. Die Szene dreht sich im Kreis. Ist sich selbst genug. Und schafft sich so an sich selbst ab.
Das mag übertrieben klingen, doch die Weinszene ist jungen Menschen so fern wie es katholische Priester eigentlich sein sollten. Und daher rührt das Problem. Obendrein ist der Wille, sich in die neue Generation zu versetzen, nicht existent. Die Medienlandschaft spricht hier Bände. Das wird uns früher oder später das Genick brechen.
Denn wenn die Regeln und Muster, nach denen die Branche die letzten 20 Jahre gelebt hat, uns an diesen Punkt gebracht haben, dann sollten wir uns dringend fragen, was diese Regeln und Muster wert sind. Und, ob wir diese Regeln und Muster nicht dringend überdenken sollten.
Ich meine: ja. Ab auf den Scheiterhaufen mit den Regeln und Muster der Vergangenheit. Was wir dringend brauchen, sind frischer Wind, ein Augenzwinkern und Rock’n’Roll. Mögen die Spiele beginnen.
Cheers.
Milton Sidney Curtis, der Wein-Influencer und freie Autor bewegt mit Wortwitz, Biss und Charme schreibend die Weinwelt. Ob feine Tropfen kleiner Weingüter oder Markenweine von Global Playern: Sidney probiert, rezensiert und polarisiert. Ein selbsternannter „Silly Ass“ für alle, die Wein lieben!
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